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Kia EV6: 1.100 Kilometer in fünf Tagen

Dass sowohl Elektroautos als auch die dazugehörige Infrastruktur in den letzten Jahren um Welten besser geworden sind, wissen wir. Dennoch fühlt man die Urlaubsreise mit dem Stromer noch immer nicht so richtig. Irgendwann muss aber jeder über seinen Schatten springen. Der perfekte Begleiter für mehr als 1.100 Kilometer in fünf Tagen ist der Kia EV6 RWD mit der 77,4 kWh-Batterie.

Fotos: Eryk Kepski

Warum ausgerechnet der Koreaner sich dafür qualifiziert? Weil er nicht nur mit 528 Kilometern eine knackige Reichweite bietet, sondern auch noch als eines von aktuell fünf erhältlichen Autos über ein (Audi e-tron GT, Genesis GV60, Hyundai Ioniq 5, Porsche Taycan) 800 Volt-System an Bord verfügt. Damit wird noch schneller geladen – wenn das Essen an der Autobahnraststätte dann etwas länger dauert, wartet der Kia auf den Fahrer statt andersherum. Ein letzter Punkt pro EV6 ist sein humaner Preis. Denn 53.490 Euro für unsere Konfiguration mit der großen Batterie und 229 PS ist auch diesseits von superreich vorstellbar. Mit einem e-tron GT oder einem Taycan zum sechsstelligen Betrag darf und muss man ein smoothes Reiseerlebnis erwarten. Der Kia EV6 kann auch im Alltag vorkommen und wir wollen ja wissen, wie alltägliche E-Reisen aussehen.

Die Route sieht aus wie folgt: Zuerst von Wien nach Prag, wo uns der neue Skoda Fabia RS Rally2 gezeigt wird. Am nächsten Tag weiter nach Oberfranken, wo eine Freundin der Freundin heiratet. Dort in der Gegend wird am Wochenende ein wenig herumgekurvt, bevor es am Sonntag über rund 600 Kilometer wieder heim nach Wien geht. Der große Unterschied zum Verbrenner-Trip liegt in der Vorbereitung. Vertraut man bei Benzin und Diesel blind darauf, Tankstellen zu finden, sollte man sich als Elektriker schon mal mit den auf der Route verfügbaren Optionen beschäftigen. Mit an Bord ist eine KiaCharge-Karte. Die funktioniert laut Homepage bei 81 Prozent aller Ladestationen in Europa. Also App aufs Handy laden und Stationen entlang der Route suchen. Mit der Filter-Funktion schließen wir alles unter 150 kW direkt aus, ain’t nobody got time for that. Zehn Minuten später sind die Ladepausen ausgearbeitet, für den Fall des Falles sogar die eine oder andere in Reserve. Kein großer Umstand, aber dennoch notwendig.

Dass die versprochenen 528 WLTP-Kilometer in dieser Welt nicht Realität werden, ist klar. Der EV6 sagt beim Start in Wien aber immerhin 470 Kilometer voraus. Die Bedingungen sind mit knapp unter 20 Grad auch perfekt. Da wir aber noch nicht so genau wissen, wie weit es wirklich geht, fahren wir nicht die 334 Kilometer-Route über Brünn, sonern düsen via Znaim 292 Kilometer gen Prag. Und siehe da: Auch dank eines großen Bundesstraßen- und somit 100er-Anteils würde sich die Geschichte ganz locker ausgehen, mit 33 Prozent extra. Bei einer Pinkelpause stecken wir bei Ionity dennoch an und laden in knapp 20 Minuten mal eben von 63 auf 93 Prozent. Dabei nicht vergessen: Von 80 auf 100 lädt es sich deutlich langsamer, um die Batterie zu schonen. Von 63 auf 80 Prozent schafft es der Kia EV6 in zackigen sieben Minuten bei unserem Stopp. Dabei kommt die 800 Volt-Technik voll zur Geltung: Die Ladesäule zeigt an, dass 796 Volt genutzt werden.

Aber wie gesagt, nötig wäre es nicht gewesen. Eine schöne Überraschung in Prag: Im Hotel können wir das Auto über Nacht an der Steckdose hängen lassen, sodass wir am nächsten Morgen wieder mit vollem Akku starten. Dementsprechend sind die rund 230 Kilometer dann auch ganz easy. Vor Ort lassen wir den Stromer einmal während eines Familienbesuchs für eine Dreiviertelstunde an einer Schnellladesäule stehen. Und zack, alles wieder voll. So weit, so unauffällig bisher.

Die echte Prüfung ist aber der Heimweg nach Wien. Denn statt appetitlicher Portionen muss der EV6 jetzt 572 Kilometer auf einmal schlucken. Das ginge sich nicht einmal laut WLTP-Reichweite aus. Quasi genau auf halber Strecke gibt es bei Passau eine Ionity-Ladestation an einer Raststätte. Diesmal wird aber alles auf der Autobahn abgespult und da will man ja nicht mit 100 km/h eine von nur zwei Spuren verstopfen. Also Tempomat auf 130, bis zum bitteren Ende. Beim Start haben wir 92 Prozent und es wird eine Reichweite von 365 Kilometern versprochen. Sollte also passen. Der Endgegner fehlt aber noch in der Gleichung: Es hat 35 Grad. Im Auto sollen aber 21 Grad herrschen – da saugt die Klimaanlage ganz eifrig an der Batterie. Um es nicht unnötig spannend zu machen: Wir kommen mit neun Prozent am Zapfstecker an, würden noch 26 Kilometer packen und haben im Lauf der zweieinhalb Stunden Fahrt durchschnittlich 22,4 kWh pro 100 Kilometer verbraucht.

Jetzt heißt es Stecker rein und Essen fassen gehen. 50 Minuten lautet Kias Ansage für 100 Prozent. Genau richtig für ein gemütliches Abendessen. Blöd, dass das Autobahnrestaurant dann „wegen der aktuellen Situation“ geschlossen ist. Die leben offenbar noch im Frühjahr 2020. Na gut, Snacks gibt es auch an der Tankstelle. Nach 50 Minuten sitzen wieder alle im Auto und die Fahrt geht weiter. Immer noch wohlige 32 Grad Außentemperatur. Der Kia EV6 will 388 Kilometer schaffen. Nach einer ereignislosen Fahrt über 282 Kilometer mit stetigen 130 km/h stehen wir Zuhause und der Akku bei 23 Prozent. 73 Kilometer könnte man jetzt noch aus ihm rausquetschen, sagt er. Dank der niedrigeren Temperaturen (es hat jetzt 25 Grad) haben wir auf der zweiten Etappe geringfügig weniger verbraucht, runde 22 kWh auf 100 Kilometern waren es. Übrigens: In der Stadt kann man den EV6 auch bei sommerlichen Temperaturen locker mit 16 bis 18 kWh betreiben. Das nur am Rande.

Und wie lautet jetzt das Fazit der Reisenden? Für die Heimfahrt haben wir exakt eine Stunde länger gebraucht als normalerweise. Also die 50 Minuten Laderei und Geschwindigkeitseinsparungen auf der deutschen Autobahn. Hätte das Lokal an der Raststätte offen gehabt, hätten wir die Pause mit einem netten Abendessen perfekt gefüllt gehabt. Und essen wollten wir sowieso. Unterm Strich also so gut wie gar keine Umstände, die uns der Kia EV6 auf der Langstrecke gemacht hat. Beim nächsten Mal gerne wieder. Klar ist aber auch: Ein Elektroauto, das laut WLTP beispielsweise nur rund 400 Kilometer weit kommt, hätte die ganze Sache deutlich mühsamer gemacht. Und das trifft halt immer noch auf die überwältigende Mehrheit der E-Fahrzeuge zu, wenn überhaupt.

Aber der Kia EV6 besteht ja nicht nur aus einem Akku, einer Klimaanlage und vier Rädern. Auch sonst bietet der Koreaner alles, was man heutzutage eben so an Bord haben muss. Das gilt für Assistenzsysteme und Technologie genauso wie für Interieur und Design. Manch einem mögen die schnittige Front und das äußerst expressive Heck zu avantgardistisch sein. Aber es steht dem EV6 eigentlich sehr gut. Drinnen kommen nicht nur nette Materialien und wertige Verarbeitung zur Geltung, sondern auch verdammt viel Platz. Man sitzt überall mit viel Freiheitsgefühl und die gigantische Ablage unter der Mittelkonsole kann sich ebenfalls sehen lassen. Da passt es dazu, dass die Fahrt selbst auch stets komfortabel und gediegen abläuft. Eine klassische Oberklasselimousine gibt sich kein Stück geschmeidiger als der EV6.

In puncto Technik werden die mittlerweile standesgemäßen zwei großen Screens im Cockpit geboten, auf denen alles abläuft, was 2022 laufen muss. Etwas nervig: Die Standklimafunktion mit einplanbarer Abfahrtszeit ist sehr mühsam aufzutreiben, bei anderen Herstellern ist das flugs erledigt. Der größte Feind des Kia EV6 ist aber die Spurhalte-Tempomat-Kombination. Der Spurhalteassistent kann zwar die Spur erkennen und folgt ihr auch, wenn man die Hände kurz vom Lenkrad nimmt. Aber gerät man mit den Händen am Lenkrad auch nur minimal auf die Fahrbahnmarkierungen, wird man penetrant angepiept – muss aber selbst zurücklenken. Der Abstandstempomat hingegen erkennt natürlich Geschwindigkeitslimits und passt den Speed entsprechend an. Will man das nicht, kann man diese Funktion im Menü gezielt deaktivieren, ebenso wie den Spurhalteassistent. Ist aber wurscht. Denn beide Assistenzsysteme sind dann laut Touchscreen abgedreht, machen aber einfach weiter. Und nein, das liegt nicht am mangelnden Leseverständnis oder Tippvermögen des Redakteurs. Auch nach mehrfacher Überprüfung ändert sich daran nichts. Mag eine Macke des Testwagens sein – wir hoffen es.

Abseits dieser kleinen Unstimmigkeiten ist der Kia EV6 aber ein geniales Elektroauto und auch ein superes Auto insgesamt. Über ihn kommt man immer wieder ins Gespräch, sowohl wegen des dynamischen Auftritts als auch wegen der Elektroauto-Langstrecken-Thematik. Und eigentlich kann man ganz gut mit ihm angeben. Die Reise hat auf jeden Fall Spaß gemacht. Ja, das geht auch mit Elektroautos.

Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

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