DriveHotTest

McLaren 720S Spider: Feuerprobe für Haarwachs

Im Auge des Orkans

McLaren 720S Spider: Feuerprobe für Haarwachs

McLaren hat den Wind gesät und jetzt können Schnellfahrer mit schwerer Brieftasche den Sturm ernten. Denn knapp zwei Jahre nach dem Debüt des 720S gibt es den Nachfolger des 650S aus der „Super Series“ nun auch wieder als Spider.

Von Thomas Geiger

Dieser stürmt zu Preisen von 280.000 Euro aufwärts pünktlich zum Start der Open-Air-Saison ab dem Frühjahr gegen Konkurrenten wie den Ferrari 488 oder den Lamborghini Huracán Spyder und setzt dabei auf eine Kombination aus Perfektion, Performance und Praxistauglichkeit, wie sie von den Italienern nur schwer erreicht wird.
Genau diesen Anspruch haben die Briten vom Coupé eins zu eins auf das Cabrio übertragen und deshalb zum Beispiel das mit elf Sekunden schnellste Klappdach im Segment entwickelt. Der offene Zweisitzer mit der schnittigen Karbonmütze wiegt obendrein nur konkurrenzlose 49 Kilogramm mehr als das Coupé und wird so zum leichtesten Auto im Feld: „Unsere Wettbewerber sind mindestens 88 Kilo schwerer“, freut sich Produktmanager Ian Digman. 88 Kilo, die man bei jedem Sprint mit beschleunigen, in jeder Kurve mit ums Eck bringen und bei jeder Bremsung mit verzögern muss, schiebt er ein wenig süffisant hinterher. Und weil der 720S nicht nur funktional sein will, sondern auch ein bisschen feudal, gibt es zu all dem Lack und Leder aus der Abteilung „Special Operations“ auf Wunsch noch ein Gimmick, das man sonst nur von opulenten Luxusroadstern wie dem Mercedes SL kennt: Dann bauen die Briten ins Karbondach noch ein großes Fenster ein, das sich auf Knopfdruck eintrüben oder aufhellen lässt.
Doch so faszinierend dieses Spiel mit Hell und Dunkel auch sein mag, gibt es in diesem Auto nur zwei Knöpfe, die einen wirklich fesseln: Der eine startet den Motor und der andere lässt das Dach verschwinden. Und wenn man beide gedrückt hat, ist man in seiner ganz eigenen Welt. Denn so hübsch die Briten die Kabine auch ausgeschlagen haben, fühlt man sich dann plötzlich wie in der Herzkammer einer Höllenmaschine, deren Takt man mit dem rechten Fuß vorgibt. Bei aller Finesse fühlt sich der Flachmann plötzlich laut und schmutzig an, es riecht nach heißem Öl und verbranntem Gummi.
Gibt man dem Lockruf der Leistung nach, wähnt man sich im Auge des Orkans. Denn so wild die Welt um einen herum auch toben mag, ist man im Auto die Ruhe selbst und genießt absolute Kontrolle: Der Motor gute zehn Prozent stärker als beim Vorgänger, die Karosserie leichter, das adaptive Fahrwerk schneller, die Aerodynamik besser und die Elektronik intelligenter – so führt man den McLaren 720S Spider fast mit dem kleinen Finger an den Grenzbereich. Schon auf der Landstraße wird jede Kurve zu einer Versuchung und auf der Rennstrecke kommt man Runde für Runde tiefer in einen Rausch, den nur ein leerer Tank beenden kann.
Es ist allerdings weniger die Längsbeschleunigung, mit der einen dieses Auto beeindruckt. Obwohl einem der Sprint von 0 auf 100 km/h in 2,9 Sekunden schon den Atem raubt und man sich bei Vollgas wie Elton Johns Rocket Man fühlt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man jetzt geschlossen 341 km/h erreicht oder sich offen mit 325 km/h begnügen muss – in jedem Fall ist der 720S eine Windmaschine, die jeden Haarfestiger auf eine harte Probe stellt.
Doch es ist vor allem die stoische Ruhe, mit der man dieses Auto immer näher ans Limit bringen kann. Als halte eine übersinnliche Macht alle Querkraft im Zaum, fliegt er wie von Zauberhand durch die Kurven und kennt in seiner Raserei keine Grenzen. Wenn es in diesem McLaren einen limitierenden Faktor gibt, dann ist es der Fahrer und nicht das Fahrzeug.
Dabei macht einem der 720S die Grenzerfahrung denkbar leicht. Denn solange man die Finger von der Variable Drift Control lässt, mit der man schrittweise die Maschen im Sicherheitsnetz sowie den Abrieb der Reifen vergrößern kann, gibt es in diesem Auto nichts, was einen vom schnellen Fortkommen ablenkt – selbst das Cockpit macht sich klein und zieht sich bis auf einen schmalen Display-Streifen in die Hutze hinter dem Lenkrad zurück, wenn man in den Track-Modus wechselt und das Auge an die Ideallinie heftet.
Zwar ist der 720S tatsächlich noch einmal stärker, schärfer und schneller geworden und auch wenn er selbst unter verschärften Bedingungen lange nicht so viel Spektakel macht wie ein Ferrari oder Lamborghini, so ist der Engländer in Eile den Italienern auf der Rennstrecke und der Landstraße mehr als ebenbürtig. Doch was den McLaren primär von seinen Konkurrenten und auch von seinem Vorgänger abhebt, das ist sein deutlich höheres Maß an Alltagstauglichkeit.
Das gilt für den Fahrkomfort auf schlechten Straßen bis hin zum Kopfsteinpflaster verwinkelter Altstädte genauso wie für das Infotainment und die Assistenzsysteme, die Platzverhältnisse für die Passagiere und den Stauraum fürs Gepäck. Nicht umsonst gibt es zu den 150 Litern im Bug selbst beim Spider noch einmal 58 Liter Ladevolumen im Verdeckfach. Vor allem aber gilt das für die Übersicht, die man in diesem Auto genießt. Den Ausblick nach vorn wie aus der Kanzel eines Kampfjets kennt man schon. Doch beim Spider sieht man selbst nach hinten besser als bei den meisten Sportwagen – egal mit welchem Aufbau. Die C-Säulen sind nämlich teilweise transparent. Für Passanten wird das zu einem spektakulären Blickfang und dem Fahrer garantiert das noch mehr Durchblick.
Wo das Coupé gemessen an den divenhaften Supersportlern aus Italien bisweilen ein wenig unterkühlt wirkt, gibt sich der 720S Spider sehr viel emotionaler: Die Sonne auf der Haut, der Wind in den Haaren, den Motor im Nacken und den Sound überall und ungefiltert – so wird die Raserei gar vollends zum Rausch der Sinne, der sich mit jedem Kickdown noch einmal steigern lässt. Denn dann explodiert der Spider förmlich in Speed und das Adrenalin schießt in den Körper wie der Champagner aus der Flasche eines Siegreichen Rennfahrers.
Doch im Spider ist man nicht nur leidenschaftlicher unterwegs als im Coupé. Der offene Zweisitzer beherrscht noch eine weitere Tugend, die dem geschlossenen Modell fehlt – er kann auch langsam. Ja, man muss sich ein bisschen (viel) zusammenreißen und den rechten Fuß ganz leicht machen, doch dann wird der 720S zu einem offenen Powercruiser, in dem man sich nicht mehr hetzen lässt. Dann trifft einen plötzlich eine ganz andere Erkenntnis: Je langsamer man fährt, desto länger kann man die Fahrt genießen. Und wenn einem die Zeit doch ausgeht, reicht ja ein Tritt aufs Gaspedal und man ist wieder im Plan.

Maximilian Barcelli

Bei 7.000 Touren beginnt der Spaß für den mehr begeisterten denn begnadeten Autofahrer.

Weitere Beiträge

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"