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Mercedes E-Klasse: E mit nur ein wenig E

Es gibt Autos mit höheren Margen und größeren Stückzahlen und auch welche, die wichtiger sind fürs Image. Doch kein Modell steht derart für Mercedes wie die E-Klasse, die bei den Schwaben traditionell als das Herz der Marke gefeiert wird. Entsprechend groß sind Aufwand und Aufmerksamkeit, wenn in diesem Sommer eine neue Generation an den Start geht – und entsprechend schwer tut sich Mercedes diesmal mit der Positionierung. Denn einerseits ist der Benz fürs Business das Kernmodell, das nicht zuletzt jenes Geld verdient, mit dem die Schwaben den Weg in die Zukunft ebnen wollen. Und andererseits passt er weder in die Zeit noch zur selbst erklärten Strategie der vordringlichen Elektrifizierung. Denn auch wenn groß und glänzend ein E auf dem Heckdeckel prangt, ist die E-Klasse eben nicht elektrisch – und damit schon als Neuheit vermeintlich veraltet.

Aber Mercedes macht aus der Not eine Tugend, rühmt die neueste Generation des Bestsellers als „Brücke zwischen den Welten“ und macht die Limousine zugleich zum Bewahrer in der Business-Klasse – denn ein viel vertrauteres, solideres und traditionelleres Auto werden Kilometerfresser und Abteilungsleiter kaum finden. „Die E-Klasse steht seit über 75 Jahren für souveränes und komfortables Fahren, verbunden mit einem hochwertigen und luxuriösen Interieur“, sagt Projektleiter Jörg Bartels: „Mit der neuen E-Klasse setzen wir das auf faszinierende Weise fort.“

Das gilt für den traditionellen Stufenschnitt, der trotz der neuen Lichtspiele und der schwarzen Maske um den Kühler so klassisch ist, dass Mercedes anders als bei der C-Klasse nicht einmal im Traum daran denken würde, den Stern auf der Haube zu opfern. Das gilt für die Abmessungen, die bei 4,95 Metern Länge und 2,96 Metern Radstand nur von mäßigem Wachstum zeugen und trotzdem mehr Platz für die Hinterbänkler und bis zu 540 Liter Kofferraum in Aussicht stellen. Und das gilt vor allem für die Antriebe, mit denen Mercedes der alten Welt mehr Auswahl bietet denn je. Denn mittelfristig wird es eine breite Palette von Vier- und Sechszylindern für Benzin und Diesel mit Heck oder Allradantrieb geben, nur der V8 hat wahrscheinlich nicht einmal mehr bei AMG eine Chance. Und auch wenn das rein elektrische Fahren dem EQE vorbehalten bleibt, steht jeder Antrieb der E-Klasse unter Strom: Alle Verbrenner sind Mild-Hybride und schon zum Start gibt es zwei Plug-In-Hybriden mit bis zu 100 Kilometern rein elektrischer Reichweite.

Los geht es bei den Verbrennern mit einem E 200 mit 2,0-Liter-Vierzylinder und 204 PS sowie einem gleich großen E 220d mit 197 PS, und bei den Teilzeitstromern stehen ein E 300e mit 313 PS Systemleistung oder ein E 400e mit 381 PS. Doch auch ein Plug-in-Diesel und Sechszylinder bis weit über 500 PS sind bereits in der Pipeline. 

Ja, E wie elektrisch, diese Gleichung mag bei der E-Klasse nicht funktionieren. Aber dafür stimmt E wie Elektronisch um so mehr. Denn nur, weil sie auf alte Prinzipien setzt, verschließt sich die Limousine nicht der neuen Technik, sondern geht im Gegenteil mit einem Infotainment ins Rennen, das selbst die S-Klasse schon wieder ein bisschen verstaubt aussehen lässt. „In der neuen E-Klasse genießen unsere Kunden das einzigartige Gefühl, Zuhause zu sein. Dafür haben wir wegweisende Technik im Innenraum mit digitaler Intelligenz kombiniert. Auf diese Weise entwickelt sich das Fahrzeug mit unseren Kunden weiter und bietet mehr Komfort und Einfachheit als jemals zuvor“, verspricht Vertriebschefin Britta Seeger.

So wollen die Schwaben der Generation Smartphone beweisen, dass ein voll integriertes und vernetztes Infotainment deutlich mehr möglich macht als ein mit Bluetooth gekoppeltes Handy. Denn wer auf der digitalen Klaviatur des Anzeige- und Bedienkonzepts richtig zu spielen weiß, der reizt beim Autofahren künftig alle Sinne, so die Botschaft. Vom größeren Display ganz zu schweigen – selbst wenn es anders als in EQS und S-Klasse nur für einen Superscreen reicht, statt für einen Hyperscreen, und hinter dem Lenkrad weiter ein separates Display aufragt.

Das beste Beispiel für den neuen, allumfassenden Ansatz ist der Sound: Wenn der Business-Bestseller im Sommer in den Handel kommt, kann man die Musik deshalb – auf Wunsch auch im neuen Gold-Standard Dolby Atmos – nicht nur hören und über die Vibrationen im Sitz fühlen. Sondern man kann sie erstmals auch sehen, weil Mercedes nun eine dynamische Ambientebeleuchtung einführt und so die gute alte Lichtorgel aus dem Partykeller der 90er als digitale Spielerei ins Hier und Heute holt.

Während es bei der neuen Sound-Experience um intensivere Erlebnisse und Nervenkitzel geht, regeln die Schwaben das Erlebnisniveau bei den erweiterten Funktionen ihres Wellness-Systems Energizing Comfort bewusst herunter. Zumindest wenn man das neue Programm gegen Reisekrankheit startet, die Elektronik auf entspanntes Kuscheln schaltet und dem Patienten sogar frische Luft zufächelt. Möglich wird das nicht zuletzt auch durch ein Update für die Klimaanlage: „Digital Vent Control“ nennen die Schwaben die neuen Ausströmer, die jetzt elektrisch gesteuert werden, spezielle Szenarien durchspielen können und so buchstäblich einen frischen Wind in die E-Klasse bringen. 

Neu sind auch die verbesserte Integration der Apps von ausgewählten Partnern und die Darstellungsmöglichkeiten. Nicht nur, dass jetzt zum Beispiel über das Portal Zync mehr Content ins Auto kommt und die E-Klasse mit TikTok oder Angrybirds ausgeliefert wird. Sondern weil eine Kamera den Fahrer jetzt noch strenger ins Visier nimmt und der Bildschirm vor dem Sozius schaltbar ist, kann der Beifahrer diese Inhalte künftig auch während der Fahrt genießen, ohne dass der Fahrer abgelenkt wird. Und wenn der Wagen steht, wird diese Kamera auf Knopfdruck zur Selfie-Cam oder macht die E-Klasse via Zoom und Webex zum digitalen Konferenz-Abteil. 

Während die Möglichkeiten immer mannigfaltiger werden, soll die Bedienung einfacher denn je sein, versprechen die Entwickler mit Blick auf neue Icons im Display und nochmals gestraffte Menüs – wenn man das System denn überhaupt bedienen muss. Denn im Idealfall lernt das Auto seine Insassen Kilometer für Kilometer so gut kennen, dass die künstliche Intelligenz der E-Klasse die jeweiligen Routinen erkennt und beim nächsten Mal von sich aus die entsprechenden Vorschläge macht. 

Schnörkelloses Design, sparsame Verbrenner, Plug-In-Hybriden mit Rekord-Reichweiten und das intelligenteste Infotainment der Marke – wie immer hat Mercedes bei der E-Klasse nicht gekleckert, sondern geklotzt. Nur dass es diesmal zumindest in der Außenwirkung kaum reichen wird. Denn selbst wenn neue E-Klasse wahrscheinlich die beste aller Zeiten ist, wird sie schon vor dem Verkaufsstart zum Auslaufmodell. Solange sie das E nur um Namen trägt und nicht unter der Haube,  steht sie nicht für Aufbruch, sondern für die Bedenkenträger und Bewahrer. Und dass sie mit dem EQE einen elektrischen Vetter hat, der sogar schon seit einem Jahr auf dem Markt ist, geht angesichts des – nun ja – eher mäßigen Erfolges der EQ-Modelle schnell vergessen. Das haben die Konkurrenten irgendwie geschickter gemacht: Denn wenn BMW zum Ende des Monats das Tuch vom wichtigsten Wettbewerber zieht, stellt sich gar nicht erst die Frage von alter oder neuer Welt: Sondern der nächste Fünfer kommt einfach parallel und im gleichen Design als Verbrenner und als E-Auto.

Während sich die E-Klasse dagegen schwertun wird, hat sie zumindest im internen Imagekampf gegen den EQE noch einen letzten Trumpf auf der Hand: Anders als die E-Limousine gibt es den Business-Benz der alten Schule kurz nach dem Start auch wieder als T-Modell und bewahrt so die Idee vom Kombi. 

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