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Rolls-Royce Ghost: Dezente Dekadenz

„Er schreit nicht, sondern flüstert nur“ – wenn Thorsten Müller-Ötvös über den neuen Ghost spricht, dann schlägt der Rolls-Royce-Chef neue Töne an. Denn bei der Arbeit an der zweiten Generation des bis dato erfolgreichsten Modells in der Firmengeschichte will die Luxury Intelligence Unit in Goodwood, wie die Briten hochtrabend ihre Marktforschung nennen, einen neuen Trend ausgemacht haben: Post-Opulenz.

Nicht mehr lauter Luxus sondern dezente Dekadenz sei gefragt bei den Superreichen, die sich nichts und niemandem mehr beweisen müssten. Deshalb sei auch der neue Ghost, der Mitte November zu Preisen ab 290.000 Euro (D) in den Handel kommt, ein  – nun ja –dezentes, beinahe diskretes Auto geworden, argumentiert die BMW-Tochter und nennt den Radiergummi als eines der wichtigsten Entwicklungs- und Designwerkzeuge. Denn es sei nicht darum gegangen, immer mehr dazu zu packen, sondern so viel Firlefanz herauszunehmen, bis nur noch die Essenz von Marke und Modell übriggeblieben war. 

Das mag widersinnig klingen bei einem Auto, das beim Generationswechsel sogar noch einmal drei Zentimeter breiter geworden ist, nun schon in der Standardversion 5,55 Meter misst und einen Grill in den Wind reckt, der nicht nur größer ist als die Stirnfläche manches Kleinwagens, sondern auch noch von innen beleuchtet wird. Aber es ist tatsächlich gelungen. Denn es sind jetzt nur noch ganz wenige Linien, die den wuchtigen Karosseriekörper definieren, es gibt kaum mehr Falze und Sicken, und wo der Ghost sonst früher bisweilen flimmerte wie ein Christbaum voller Lametta, gibt’s es jetzt nur ein paar dezente Lichteffekte – und viel Spielraum für mehr oder minder geschmackvolle Tuner. 

Was die Briten außen an Zurückhaltung aufbringen, machen sie innen allerdings mehr als wett – selbst wenn das Ziffernblatt der Analoguhr nicht einmal mehr beschriftet ist und die Ambientebeleuchtung nur zwei Farben kennt: Nicht nur, dass sie die mehr als 300 Paneele und Polsterelemente mit über 20 sogenannten Halbhäuten überziehen und mehr Furniere anbieten als die versiertesten Kunsttischler. Sondern sie holen ihren Kunden mehr denn je auch die Sterne vom Himmel. In dem mittlerweile fast schon legendären LED-Firmament unter dem Dach schwirren nun erstmals sogar Sternschnuppen und in der Konsole vor dem Beifahrer lassen 152 Leuchtdioden durch 90.000 lasergeätzte Punkte rund um den Namenszug 850 weitere Sterne strahlen. 

Dazu gibt neben digitalen Instrumenten und dem schon für den Phantom deutlich verfeinerten Infotainment-System aus Siebener & Co jede Menge Komfortfeatures von elektrisch ausfahrenden Picknick-Tischen oder Tablet-Computern bis hin zu knöcheltiefen Fellfußmatten und ein Detail, das die Kunden aller anderen, deutlich teureren Baureihen nicht für Geld noch gute Worte bestellen können: Zum ersten Mal schließen die natürlich wieder gegenläufig angeschlagenen Türen nicht nur elektrisch, sondern öffnen sich auch auf Knopfdruck mit einem feinen Summen.

Zwar wird man sich in Goodwood der Bezeichnung „Auto“ vermutlich verwehren, weil das ein viel zu profaner Begriff ist für einen derartiges Dickschiff. Doch kommt auch Rolls-Royce bei allem Lack und Leder nicht um den Einbau eines Fahrwerks und eines Antriebs herum. Allerdings treiben die Briten auch in dieser Disziplin mehr Aufwand als jeder andere Hersteller, damit man davon möglichst wenig mitbekommt. „Waftability“ lautet ihre Umschreibung für eine automobile Fortbewegung, die dem Fliegen oder Schweben in ihrer abgehobenen Mühelosigkeit näher ist als das Fahren. Dabei gilt der Ghost als Auto für den Selbstfahrer unter den Superreichen und will deshalb bei aller seriöser Souveränität trotzdem ein bisschen Spaß bieten. Nicht umsonst gibt es erstmals sogar eine Allradlenkung, die das gewaltige Auto auf ein handliches Format schrumpfen  lässt.

Allerdings muss man den Ghost dafür fast schon mit unziemlicher Direktheit und gehörigem Druck im rechten Fuß bewegen, um ihn auch nur ein wenig aus der Reserve zu locken – sonst ist weder vom Motor was zu hören, noch von irgendwelchen Fliehkräften was zu spüren. Dabei schöpft der imposante Zwölfender aus seinen 6,75 Litern Hubraum mit 571 PS und 850 Nm allemal genügend Kraft, um sich bemerkbar zu machen. Immerhin beschleunigt er das Prunkschiff trotz 2,5 Tonnen Leergewicht in 4,8 Sekunden auf Tempo 100 und wird erst bei 250 Sachen von der Elektronik eingebremst wenig.

Doch in der Ruhe liegt die Kraft. Deshalb packt der Ghost seine Insassen lieber in Watte, bettet sie auf Wolken und beamt sie eher ans Ziel als dass er sie befördert: Möglich machen das ein weiter verfeinertes Setting aus Federn und neuen Dämpfern, die von einem zweiten Set an Dämpfern gedämpft werden, bevor sie mit der Aluminium-Karosserie kuscheln und dabei mit einer Kamera weit vorausschauen und sich elektronisch auf alle Gegebenheiten einstellen. Die Automatik nutzt für den gleichen Zweck die GPS-Daten und der Motor ist so leise und dreht so niedrig, dass die Fortbewegung im Ghost ziemlich gespenstisch wirkt. Und damit er ja nicht aus dem Tritt kommt, fährt der Ghost nun auf allen Vieren. 

Dass sich im Ghost mehr Rolls-Royce-Käufer für den Platz vorne links als hinten rechts entscheiden, hat allerdings noch einen weiteren Grund: Auch im Fond ist es mit der Opulenz nicht ganz so weit her: Nicht dass der Ghost bei 3,30 Metern Radstand knapp geschnitten wäre, und man muss sich schon gehörig recken, bis die Knie an den Rücklehnen des Vordermanns schleifen: Doch mit Sitzen, die eher Sessel sind, mit einer Rückbank wie ein Sofa und mit hohen Brüstungen für die auch weiterhin gegenläufig angeschlagenen Türen, fühlen sich Hinterbänkler je nach Deutung der Dinge kuscheliger oder beengter, als es im Ghost tatsächlich ist. Doch auch all jenen, die dieser gefühlten Enge nicht nach vorne entfliehen wollen, macht Rolls-Royce ein Angebot: Für 36.000 Euro Aufpreis gibt es eine Extended Version, die in Radstand und Länge um 17 Zentimeter wächst und Schluss macht mit all der eingebildeten Beklemmung.

Außen dezent, innen dekadent – zwar hat Rolls-Royce für den neuen Ghost tatsächlich eine neue Sprache gefunden und damit den Lärmpegel in der Luxusliga deutlich gesenkt. Doch auch wenn der Gute Geist aus Goodwood jetzt nur noch flüstert statt zu schreien, findet er im Widerstreit mit Marken wie Maybach oder Bentley ganz sicher genügend Gehör.

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